Warum tust du das?

Oliver Sonntag

Es ist Herbst 2003. Wir haben mal wieder unser alljährliches Ehemaligentreffen an der Schule, wo wir vor Jahren unser Abi gemacht haben. Gerade erzähle ich meinem Kumpel Christian, dass ich in ein paar Wochen ein Gewerbe anmelden und mich als Web-Entwickler selbständig machen und eine Agentur gründen werde.

„Warum?“, fragt er mich total erstaunt. Irritiert blicke ich ihn an: „Wie …? WARUM?“.  „Naja“, sagt er, „Warum glaubst du, sollte das jetzt funktionieren?“. Er spielt natürlich auf die aktuelle New-Economy-Krise an und darauf, dass gerade eine Internetagentur nach der anderen den Bach runtergeht. Jetzt also eine Internetagentur zu gründen, klingt für ihn - vorsichtig ausgedrückt - nach einer irgendwie eigenartigen Idee. Mit seiner Warum-Frage hat er mich voll erwischt. Aber nicht, weil er mich fragt, warum das mit meiner Agentur funktionieren sollte, sondern weil mich dieses eine Wort nachdenklich macht: WARUM. Warum will ich überhaupt gründen? Was ist mein Antrieb, was ist meine Motivation? Warum soll es mein Unternehmen überhaupt geben?

Es lebe das Narrativ

Liest man von berühmten, erfolgreichen Unternehmern, was einmal die Motivation für ihre Gründung war und was damit verbunden ihre Mission und Vision ist, kommt bei vielen ein wie aus dem Ei gepelltes Narrativ zum Einsatz, also eine Story, die alles in einem vom Erzähler gewünschten Licht darstellt. Da gibt es dann die großartigsten und wundersamsten Geschichten, die Unternehmer im Nachhinein erzählen, um ihrer persönlichen Story das letzte Quäntchen Würze und Eindruck zu verleihen. Mal mag es absolut authentisch sein, mal mag die Marketingabteilung nachgeholfen haben. Das können dann die berühmten "Vom Tellerwäscher zum Millionär" Geschichten sein oder Erzählungen à la "Seit dem Kindergarten wusste ich schon, dass ich einmal dieses oder jenes machen oder sein werde und habe all mein Herzblut, Hab und Gut in diese eine Idee investiert." Beliebt sind auch die Narrative „Ich wollte die Branche revolutionieren“ oder "Ich wollte die Welt verändern“ bis hin zu „Ich wollte eine Delle ins Universum schlagen“.

Nun müsste ich schon sehr kreativ werden oder gar Geschichtsfälschung betreiben, um das Narrativ meiner Unternehmensgründung in eine Richtung zu lenken, die in der Rückschau derart en vogue wäre. Weder war ich früher mal Tellerwäscher oder bin heute Millionär, noch habe ich im Kindergartenalter gewusst, was einmal aus mir werden könnte. Ebensowenig hatte ich Ambitionen, gleich die ganze Welt verändern oder gar eine Delle ins Universum schlagen zu wollen. Meine Motivation bestand zunächst einmal in dem profanen Anspruch, von dem, was ich gerne und gut machte, Leben zu können. Hätte mir jemand einen Job angeboten, ich hätte ihn sofort angenommen. Ich hatte ja auch alles versucht, aber die Internet-Branche war 2003 - wie oben schon erwähnt - aufgrund der Krise ziemlich im Eimer. Somit konnte ich mir ein Angestelltenverhältnis erstmal abschminken.

Den Mund zu voll genommen?

Über das tiefergehende Warum von mir und meinem Unternehmen machte ich mir erst Gedanken, als ich einige Zeit später vor der Herausforderung stand, auf der Homepage meiner frisch gegründeten Firma zusammenzufassen, wofür ich bzw. die Agentur überhaupt stehen würde. Ich stellte mir das so vor: Unsere Kunden sollten sich hier rundum und dauerhaft gut aufgehoben und optimal betreut fühlen, besser als sie das bei anderen Agenturen erleben würden.

Und so versuchte ich das im Jahr 2003 auf der ersten AI Website in Worte zu fassen:

Die Arbeitsweise von ANTWORT:INTERNET ist geprägt durch eine hochentwickelte Ordnung und disziplinierte Organisation. Warteschleifen sind hier tabu, Preistransparenz, pünktliches und vollständiges Reporting sind eine Selbstverständlichkeit. Die zuverlässige Einhaltung von Deadlines gehört zu den Grundmanifesten von ANTWORT:INTERNET. So machen Projekte richtig Spaß und sind erfolgreich!

Über-uns-Passage der ersten AI Homepage (2003).

Screenshot der ersten Homepage von ANTWORT:INTERNET
Die erste AI Website (2003). Was mich damals bei der Farbwahl geritten hatte, kann ich heute gar nicht mehr sagen. Aber es gab mal eine Zeit, da waren schwarze Websites total angesagt. ;)

Uuuups! Da hatte ich den Mund ja ganz schön vollgenommen. In dieser kurzen Textpassage steckten etliche Versprechen, die es erst einmal zu erfüllen galt. Ich war bereit dazu. Aber nach und nach würde ich mir ein Team aufbauen und da müsste jeder mein persönliches Warum teilen und konsequent danach handeln.

Dass das anfangs schmerzlich war, davon kann Marcus Lelle, der seit 2007 Projektmanager bei AI ist, ein Lied singen:

Ich fing 2007 als Projektmanager bei AI an. Die Zusammenarbeit mit Oliver glich für mich anfangs einer Zahnwurzelbehandlung. Solche Pedanterie hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht erlebt. Alles musste auf die Minute genau kommentiert, beantwortet, dokumentiert und fertiggestellt sein. Anfragen von Kunden musste ich kurzfristig beantworten, obwohl ich noch gar keine konkrete Antwort geben konnte und ich eigentlich nach der Devise lebe ‚Wenn man nichts zu sagen hat, dann einfach mal die Klappe halten‘. Oliver meinte: ‚Darum geht es auch gar nicht. Schreibe dem Kunden bitte, dass du seine Email erhalten hast, dich um sein Anliegen kümmern und dich bei ihm an einem bestimmten Tag, auf den du dich exakt festlegst, mit einer konkreten Antwort melden wirst.‘ Er sagte das nicht nur. Er hatte unter dem Titel ‚Der AI Codex‘ sogar eine Art Agentur-Manifest geschrieben, in welchem er ganz genau definierte, wie wir uns im Team zu verhalten haben. Jedes Teammitglied musste das unterschreiben. Es ging darin um Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit, Organisation, proaktives Handeln, Kompetenz und Loyalität. Anfangs hielt ich das wie gesagt für Pedanterie, für ein übertriebenes ‚Old-School-Gehabe‘. Oliver wollte die sogenannte ‚tugendhafte Agentur‘ sein. Sehr bald merkte ich, dass wir, indem wir konsequent nach diesem Codex handelten, einen Nerv bei unserer Zielgruppe getroffen hatten. Wir wurden weiterempfohlen und wuchsen fortan sozusagen organisch durch reine Mund-zu-Mund Propaganda, langsam aber stetig.

Marcus Lelle
seit 2007 Projektmanager bei ANTWORT:INTERNET

Foto des Titelblatts vom AI Codex
Ich hatte es wirklich getan und war irgendwie auch stolz darauf. Ein Handbuch für das Team meiner Agentur, indem ich unseren Verhaltenscodex definierte.

Frag immer erst: warum

Warum gibt es deine Firma bzw. deinen Arbeitgeber? Warum wurde das Unternehmen je gegründet? Warum stehst du Tag für Tag auf, um für diese Firma dein Bestes zu geben? Seit ich vor ein paar Jahren das Buch „Frag immer erst: warum“ von Simon Sinek gelesen habe, ist mir erst so richtig bewusst geworden, wie wichtig die Beantwortung der Warum-Frage ist und gleichzeitig, wie schwer.

Foto vom Buchdeckel "Frag immer erst: warum"
Hat mich inspiriert und kann ich nur empfehlen. "Frag immer erst: warum" von Simon Sinek

Stelle ich Geschäftsführern, Managern oder anderen Mitarbeitern eines Unternehmens die Warum-Frage, blicke ich nicht selten in ungläubige Augen. Dabei liegt - glaubt man Sinek - genau in der Beantwortung dieser Frage der Kern für den Erfolg eines Unternehmens, für seine schlüssige Positionierung am Markt, für seine Abgrenzung vom Wettbewerb und für ein motiviertes und loyales Team, welches geschlossen in die selbe Richtung marschiert. Während die meisten Angehörigen eines Unternehmens wie aus der Pistole geschossen darauf antworten können, WAS ihre Firma tut und WIE sie es tut, wird es bei der Frage, WARUM sie es tut, oft still.

Wenn es gut läuft, lässt sich im Nachhinein immer gut behaupten, man hätte von Anfang an einen Masterplan, eine Vision und ein fundiertes WARUM gehabt. Ehrlicherweise muss ich gestehen, dass vieles, was ich seit Gründung meines Unternehmens getan habe, oft einem unbewussten WARUM gefolgt ist, was ich lange Zeit nicht richtig in Worte fassen konnte oder wollte. Ich glaube, ich hatte die Befürchtung, ich könnte alles zu sehr verwissenschaftlichen, zerdenken und zerreden. Das geht vielleicht vielen so. Die Devise „Ärmel hochkrempeln und einfach machen“ hat ja auch was für sich und der Bauch als Entscheidungsorgan kann oft viel Gutes bewirken. Das mag einerseits alles förderlich sein, weil es einen hohen Grad an Authentizität zeigt. Man tut quasi etwas intuitiv, ohne groß darüber nachzudenken und ohne sich dabei zu verstellen. Und im besten Fall funktioniert es. Muss man sich die Warum-Frage dann überhaupt noch stellen und beantworten? Ich denke schon. Denn andererseits geht es auch darum, Menschen auf dem Unternehmensweg mitzunehmen, sowohl Kunden als auch Mitarbeiter. Ich weiß es sehr zu schätzen, dass ich im Laufe der Jahre auf beiden Seiten Menschen gefunden habe (oder sie mich), die das Warum meines Unternehmens mit mir teilen.

Was ist jetzt mit dem WARUM?

Doch leider ist meine Warum-Frage hier immer noch nicht klar beantwortet. Zu schnell gleite ich immer wieder ab in die Beschreibung dessen, WAS ich tue und WIE wie ich es tue. Unser eigentliches WARUM mag am Ende so stark mit unserer eigenen Persönlichkeit und unserer ganz eigenen Sicht auf das Leben verwoben sein, dass wir es kaum in Worte fassen können. Wer kann schon eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des (oder seines) Lebens aus dem Ärmel schütteln?

Foto vom AI Codex und daneben liegt das Buch "Frag immer erst: warum"
Geht das eine ohne das andere? Nach welchem Codex soll ich leben und arbeiten, wenn ich nicht weiß, warum?

Ich habe neulich in dem Buch „Über den Sinn des Lebens“ des österreichischen Neurologen und Psychiaters Viktor E. Frankl eine interessante Aussage gelesen. Darin schreibt er, „(…) dass es eigentlich nie und nimmer darauf ankommt, was wir vom Leben noch zu erwarten haben, vielmehr lediglich darauf: Was das Leben von uns erwartet“.

Das klingt auf die Schnelle irgendwie immer noch abstrakt und zu wenig hilfreich, obwohl es sich lohnt, das einmal sacken zu lassen. Einen spontanen Aha-Effekt bescherte mir da neulich der mittlerweile 81-jährige Hollywood Schauspieler Harrison Ford, der in einem Interview auf die Frage, was er für den Sinn des Lebens halten würde, antwortete: „Be useful.“ Zwei Wörter mit einem starken Motiv: „Sei nützlich.“ Ich war beeindruckt. Hatte ich nach fast 20 Jahren etwa endlich mein wahres WARUM gefunden?


Quellen:

  • Sinek, Simon. Frag immer erst: warum. München: Redline Verlag, 9. Auflage (2021).
  • Frankl, Viktor E. Über den Sinn des Lebens. Beltz; 7. Edition (2021)

Dazu passender Artikel

Zum Blogartikel von Oliver Sonntag: Wir waren Helden ...

Wir waren Helden. Eine Gründungsgeschichte im Schatten der New-Economy-Krise.

Ich blicke zurück auf eine Gründungsidee, von der mir damals viele abrieten. Vielleicht kann meine Geschichte ja Menschen inspirieren und motivieren, die - wie ich damals - darüber nachdenken, ihre Leidenschaft zum Beruf zu machen.



Berliner / Jahrgang '73 / seit über 25 Jahren beruflich in der Internetbranche tätig / berät deutsche Mittelstandskunden, Vereine und Institutionen im Bereich Internet und Digitalisierung / Gründer und Geschäftsführer der Berliner Internetagentur ANTWORT:INTERNET.


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