Wir waren Helden. Eine Gründungsgeschichte im Schatten der New-Economy-Krise.

Oliver Sonntag

Ich könnte, sollte, müsste doch sehr stolz sein. Das jedenfalls bekomme ich in diesen Tagen immer wieder als Reaktion zu hören, wenn ich erwähne, dass das Unternehmen, welches ich einmal gegründet habe, in diesem Jahr 20-jähriges Jubiläum feiert. Und dann frage ich mich, wie das mit dem "stolz sein" eigentlich gemeint ist. Auf die schiere Dauer der Existenz eines Unternehmens kann man ja schlecht stolz sein, denn ein solches einfach nur existieren zu lassen, ist zunächst ein rein bürokratischer Akt und demnach keine große Kunst.

Spannender wird es da schon, wenn man sich anschaut, warum ein Unternehmen überhaupt jemals gegründet wurde bzw. was in meinem Fall damals meine konkreten Beweggründe und Ziele waren und was dann nach 20 Jahren daraus geworden ist.

Ein Raum mit einem Tisch, darauf - ziemlich unordentlich - Unterlagen, Kaffeetasse, Aschenbecher und ein Laptop im Stil der 90er Jahre. Im Hintergrund: Hifi-Anlage, Röhren TV und Desktop-Rechner
Mein 90er Jahre Homeoffice. Alles, was man zum Leben und Arbeiten braucht. ;)

Heutzutage wird viel über die sogenannte Work-Life-Balance geschrieben und gesprochen, über Selbstverwirklichung und -optimierung und über das Finden des persönlichen Glücks. Dieses Glück sei - so wird immer wieder berichtet - auch eng damit verbunden, dass man einer Arbeit nachgeht, die sich gar nicht mehr nach Arbeit anfühlt, weil man es geschafft hat, sein Hobby zum Beruf zu machen und somit jeden Tag seine Leidenschaft ausleben und damit auch noch seinen Lebensunterhalt verdienen darf. Ist das nicht eine paradiesische Vorstellung?

Arbeitsurlaub? BITTE WAS?!

Erst kürzlich las ich von einer jungen Bloggerin auf Social Media, die im Bereich „Online-Business“ tätig ist, dass sie zwar gerade im Urlaub sei, aber dort schon so viel geschafft hätte, dass sie sich fragt, ob das noch Urlaub oder schon „Workation“ ist (hihi!). Für die unter uns, die der Generation X oder einer noch älteren Spezies angehören: Das Schachtelwort „Workation“ ist aus den englischen Begriffen „Work“ und „Vacation“ entstanden, würde also direkt übersetzt das Paradox „Arbeitsurlaub“ ergeben. Das wiederum bezeichnet in der Regel eine Situation, in der man seinen Arbeitsort an eine schöne Location bzw. an einen tollen Urlaubsort verlegt, wo man seiner Arbeit dann mit Blick aufs Meer, die Berge oder in was auch immer für pittoresken Settings nachgeht. Optimalerweise ist die „Workation-Location“ auch noch „instagrammable“ und kann mit der Community „geshared“ werden. Die stinknormale Arbeit wird somit zum Schmiermittel für die Optimierung der eigenen Sichtbarkeit und „Relevanz“ in den sozialen Medien.  

Menschen, die in der Industrie, im produzierenden Gewerbe, in Laboren, in Pflege- oder Handwerksberufen, bei der Polizei, Feuerwehr, Stadtreinigung oder sonstigen Berufen arbeiten, die nicht für „Homeoffice“ prädestiniert sind, werden mit dem Begriff „Workation“ nicht allzu vertraut sein. Aber überall dort, wo man zum Arbeiten lediglich Laptop, Smartphone und Internetzugang benötigt, wird um dieses Arbeitsmodell zum Teil getanzt wie um das goldene Kalb. Ich halte mich für legitimiert, das alles ein wenig kritisch und ironisch zu betrachten, weil ich selbst in einer Branche arbeite, in der „Homeoffice“ und „Workation“ nicht nur mögliche und realistische Szenarien sind, sondern die diese Szenarien überhaupt erst ermöglicht hat: das Internet.

Ich will hier aber gar nicht dieses pro-und-contra-Fass des Arbeitsmodells „Homeoffice“ aufmachen. Diese Sau wurde und wird ja regelmäßig immer wieder durch alle möglichen Dörfer getrieben. Ich möchte hier lediglich festhalten, dass es grundsätzlich die Möglichkeit gibt, aus einer Leidenschaft einen Beruf zu machen. Und wenn dem so ist, stellt sich dann nicht die Frage, wie lange so etwas überhaupt funktionieren kann? Kommt nicht irgendwann jeder an den Punkt, wo ihn die Routine einholt und aus dem einstigen Hobby eine regelmäßige Verpflichtung wird, die man mit weniger Euphorie und Enthusiasmus verfolgt, als in der aufregenden Anfangsphase? Und wenn es diesen Punkt der Ernüchterung geben sollte, wann und warum erreicht man ihn? Gibt es Möglichkeiten, ihn hinauszuzögern, ihm auszuweichen oder ihn gänzlich zu vermeiden?

Jetzt nur nicht sentimental werden!

Wer bin ich, dass ich mir herausnehme, zu diesem Thema nicht nur Fragen zu stellen, sondern auch noch Antworten anzubieten? Bin ich jetzt ein Work-Life-Balance-Coach oder was? Nein, bin ich nicht. Ich würde mich vielmehr als einen „Betroffenen“ bezeichnen. Ich werde in diesem Jahr 50. Und sobald ich 50 bin, werde ich seit 25 Jahren - also die Hälfte meines Lebens - einem einzigen Beruf nachgegangen sein, welcher einmal aus reiner Leidenschaft und einem Hobby entstand. 20 Jahre davon habe ich weder meine Rolle, noch meinen Arbeitgeber gewechselt. Klingt langweilig? Rückblickend war es alles andere als das, denn besagtes Unternehmen, welches in diesem Jahr sein 20-jähriges Jubiläum feiert, habe ich damals selbst gegründet und aufgebaut. Meine Firma, eine Internetagentur, war Anfang der 2000er eine reine Startup-Idee, von der mir damals viele abgeraten haben.

Zu dieser Zeit lag die gesamte Internet-Branche am Boden. Gerade war die New-Economy-Blase, auch Dotcom-Blase genannt, mit einem ziemlich lauten Knall geplatzt. Bis dahin ging's uns Internetpionieren wirklich blendend! „Wir waren Helden“. So könnte man unsere Situation damals in den 90ern sehr treffend beschreiben. Doch jeder Held erlebt auf seiner Reise einmal seine existentielle Krise:


Sie waren Helden für kurze Zeit. Internetpioniere. Menschen, denen Investoren das Geld nur so hinterherwarfen. Ein halbes Jahrzehnt lang hatte das World Wide Web Anleger und Gründer träumen lassen. Doch kurz nach Beginn des neuen Jahrtausends erfasste ein Massensterben die New Economy. Dotcom Mania ging zu Ende. Die Folgen trafen Unternehmen und Beschäftigte auf der ganzen Welt: Börsencrashs, Pleiten, Entlassungen. Und verzweifelte Versuche, mit der Firma doch zu überleben.

"Wie im Jahr 2000 die Dotcom-Blase platzte". Capital vom 06.09.2021 (Stand 11.09.2023)


Diese Folgen bekam auch ich zu spüren. Wurde ich als junger "Internetexperte" Mitte der 90er Jahre noch von den meisten Unternehmen hofiert und konnte mir bereits als Student aussuchen, für welches Unternehmen ich hervorragend dotiert arbeiten wollte, fasste man mich nun nicht mal mehr mit der Kneifzange an. Internetexperten wurden jetzt entlassen und nicht eingestellt. Ich hatte ein abgeschlossenes Studium inklusive Berufserfahrung und tollen Referenzen und schrieb an die 80 Bewerbungen. Einladungen zu einem Gespräch erhielt ich: Null. Zum Vergleich: Nur wenige Jahre zuvor hatte ich 5 Bewerbungen geschrieben und 5 Einladungen bzw. attraktive Vertragsangebote erhalten.

Ein Cartoon im Popart-Stil: Ein Mann mit Krawatte sitzt verzweifelt vor seinem Notebook.
Das vorläufige Ende einer Heldenreise. Die New-Economy-Blase platzt mit lautem Knall und die Druckwelle walzt eine ganze Branche nieder.

Nun war ich 29 Jahre alt und arbeitslos

Meine Perspektive auf eine Festanstellung in der Internetbranche war alles andere als gut. Aus finanziellen Gründen nahm ich schließlich einen völlig fachfremden Job an. Nach Feierabend und an Wochenenden ging ich dann meiner wahren Leidenschaft nach und kümmerte mich um die Internetauftritte befreundeter Unternehmer.

Wenn ich heute an diese Zeit zurückdenke, stand ich vor einer Weggabelung und musste mich entscheiden. Ich hätte in dem mir fachfremden Job, dem ich quasi ersatzweise nachging, die Option auf eine gut bezahlte Karriere gehabt. Man brachte mir viel Vertrauen entgegen und bot mir an, mich aufzubauen. Ich hörte schließlich auf meinen Bauch, ließ das Angebot sausen und sprang ins Wasser der Selbständigkeit. Dieses Wasser war nicht nur kalt, sondern ich konnte damals auch noch nicht absehen, wie tief es wohl sein würde, gerade weil eben zu dieser Zeit die Internetlandschaft in Trümmern lag. Andererseits: konnte nicht gerade deshalb alles nur noch besser werden?

Ich dachte mir, dass meine Geschichte vielleicht den einen oder anderen Menschen interessieren könnte, insbesondere wenn er sich mit „Gründungsgedanken“ trägt und eine Leidenschaft - selbst unter schwierigen Bedingungen - zum Beruf machen will. Vielleicht findet man sich aber auch in meiner Geschichte wieder, wenn man - wie ich -  auf die eigene berufliche Vergangenheit zurück-, gleichzeitig aber auch weiter neugierig nach vorne blickt und sich fragt, wie man aus dem bisher Gelernten immer wieder das Bestmögliche herausholt.

Die Zeit bis zum diesjährigen runden Geburtstag meines Unternehmens möchte ich daher nutzen, um einige Kapitel aus meinem beruflichen Reisetagebuch der letzten 20 Jahre zu veröffentlichen.

Wer Interesse daran hat, kann das gern demnächst hier lesen und gern auch meinen Newsletter abonnieren.

Ich freu mich drauf!

Herzliche Grüße, Oliver Sonntag

Update vom 19.09.2023! Die Fortsetzung des Artikels ist unter dem Titel Warum tust das? nun online. Worum geht's? Die Frage "Warum tust du das?" habe ich mir schon vor 20 Jahren gestellt, als ich meine Gewerbeanmeldung unterschrieb. Vielleicht trägt meine Agentur ja deshalb das Wort "ANTWORT" im Firmennamen, weil ich immer wieder nach einer Antwort suche? Ob ich sie mittlerweile gefunden habe und warum das überhaupt wichtig ist, davon handelt meine Geschichte.

 


Berliner / Jahrgang '73 / seit über 25 Jahren beruflich in der Internetbranche tätig / berät deutsche Mittelstandskunden, Vereine und Institutionen im Bereich Internet und Digitalisierung / Gründer und Geschäftsführer der Berliner Internetagentur ANTWORT:INTERNET.


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