RADIKAL DIGITAL. Mein 500-Tage Selbsterfahrungs-Trip auf dem Weg zum papierlosen Büro
Wenn es um die Digitalisierung unseres beruflichen und privaten Alltags geht, scheint heute unglaublich viel möglich zu sein. Zumindest auf technischem Gebiet.
Doch wie gut bewähren sich digitale Produkte und Abläufe im Alltag? Sparen wir durch ihren Einsatz wirklich wertvolle Zeit, und können wir mit ihrer Hilfe produktiver und wirtschaftlicher arbeiten? Und wenn ja, wie lange dauert es, bis sich ein messbarer Erfolg einstellt? Ich wollte es ganz genau wissen und habe mir einen Klassiker der Digitalisierung, das papierlose Büro, vorgenommen und mich einem radikalen Selbstversuch unterzogen.
Ist denn nicht sowieso schon alles papierlos?
Leute, denen ich von meinem Projekt erzählte, reagierten nicht selten verständnislos: „Wozu der Aufwand? Heute findet doch die Kommunikation dank Email eh fast nur noch digital statt.“ Aber stimmt das denn? Die Briefkästen der meisten Unternehmen sprechen da eine ganz andere Sprache. Wo immer es möglich war, habe ich die Papierpost mittlerweile auf digitale Post umgestellt. Dennoch landen täglich haufenweise Dokumente in Papierform im Briefkasten meiner Firma.
Zwischenbilanz nach 500 Tagen „Projekt papierlos“
Als ich vor ca. 2 Jahren nach monatelangen Vorüberlegungen die Entscheidung traf, mein geschäftliches und privates Leben auf „papierlos“ umzustellen, dachte ich mir bereits, dass das kein triviales Projekt werden würde. In der Überzeugung, die Probleme, die sich mir wahrscheinlich entgegenstellen würden, schon irgendwie zu meistern, startete ich 2017 mein Projekt „Radikal digital“. Heute, nach 500 Tagen digitalem Selbsterfahrungstrip möchte ich meine erste Zwischenbilanz mit Ihnen teilen.
Vorüberlegungen
Als ich über ein passendes Konzept und das technische Setup für mein digitales Dokumentenmanagement nachdachte, stand für mich im Vordergrund, dass ich die Auffindbarkeit von Dokumenten aller Art optimieren und die Anzahl der Aktenregale minimieren wollte. Außerdem wollte ich die Möglichkeiten zur Zusammenarbeit an Dokumenten verbessern. Kurzum, es ging mir darum, meinem Team einen einfacheren und schnelleren Zugriff auf Informationen zu ermöglichen, Kommunikation und Arbeitsabläufe zu beschleunigen und dadurch wertvolle Zeit zu sparen. Des Weiteren war es für mich ein Muss, dass für die digitalisierten Dokumente bestimmte Aktionen und Eigenschaften definiert werden konnten, z.B. Erinnerungen, Notizen, Zugriffsrechte, Verbindungen zu anderen Dokumenten, Speicherung von Bearbeitungsverläufen etc. Insbesondere bei Eingangsrechnungen oder sonstigen mit einer Bearbeitungsfrist versehenen Dokumenten ist eine Kalender- bzw. Erinnerungsfunktion äußerst nützlich. Stellen Sie sich einfach vor, ein Stück Papier auf Ihrem Ablagestapel würde Ihnen am Stichtag zurufen: „Denk dran, mich heute zu bearbeiten!“
Ich schoss womöglich etwas über das Ziel hinaus, als ich – von digitalem Enthusiasmus übermannt – mein Experiment auch auf unseren privaten Haushalt ausweitete. Doch spätestens wenn die heimischen Aktenregale einem riesigen, neuen Kleiderschrank gewichen sein werden, wird sich die Aufregung bei meiner Frau gelegt haben und sie wird meinen digitalen Weitblick nachträglich zu schätzen wissen.
Anforderungen und Basis-Setup des DMS (Dokumentenmanagement -System)
Digitalisierte Dokumente sollen
- einfach und schnell per Volltextsuche auffindbar sein,
- ortsungebunden verfügbar sein (dezentraler Zugriff für das Team, auch über mobile Endgeräte)
- einfach und schnell bearbeitet, markiert und mit anderen geteilt werden können
Zu diesem Zweck entschied ich mich für das folgenden Setup*:
- Dokumentenscanner (bis zu DIN A4, Schwarzweiß und Farbe, Duplex, 25 Seiten pro Min.),
- OCR-Komponente (automatische Schrifterkennung und Umwandlung von gescanntem Text in maschinenlesbare Zeichen),
- eine cloudbasierte Software für die Speicherung, Organisation und Bearbeitung der digitalen Dokumente
- eine mobile Komponente, die zusätzlich das Scannen per Smartphone erlaubt und über die auch auf sämtliche gespeicherten Dokumente zugegriffen werden kann.
- Tablet + Stift (zur handschriftlichen Bearbeitung digitaler Dokumente)
Workflow
Alle Dokumente, die mein Unternehmen per Papier erreichen (also alle, die tagtäglich im Briefkasten landen), werden umgehend und konsequent digitalisiert (gescannt), mittels OCR maschinenlesbar gemacht und in der Dokumentencloud gespeichert. Von diesem Moment an wird ausschließlich mit dieser digitalen Version des Dokuments gearbeitet. Die Ablage erfolgt in virtuellen „Aktenordnern“, deren Inhalte mittels Volltextsuche zugänglich sind. Auch wenn ich also nicht wissen sollte, wo sich ein Dokument befindet, lässt es sich per Stichwort spielend leicht finden. Das Original bzw. das entsprechende Papier wird mit einem Stempel als gescannt markiert und verschwindet sofort in einer Archivbox, unabhängig von Thema und Absender. Die Dokumente in der Box werden in der Reihenfolge des Scandatums aufeinandergestapelt und lassen sich so bei Bedarf jederzeit wiederfinden.
Erfolge
Insbesondere im Backoffice- und Buchhaltungsbereich, wo traditionell noch viel Papier im Briefkasten landet, konnte der Zeitaufwand für Ablage, Bearbeitung und spätere Auffindbarkeit deutlich verringert werden. Auch die Tatsache, dass man im Team unabhängig von Zeit und Ort Zugriff auf Dokumente hat, die zuvor noch an einem festen Ort – meist in einem Aktenregal im Büro – lagerten, erleichtert und verkürzt Arbeitsabläufe. Vermerke, die digital in einem Dokument gemacht werden, stehen sofort jedem befugten Nutzer zur Verfügung.
Hürden, Probleme und Nachdenklichkeit
Digitales Dokumentenmanagement? Von wegen! Heute ist schon wieder so ein Tag, an dem ich Stapel von Papier auf meinem Schreibtisch hin und her schiebe und handschriftliche Anmerkungen auf einzelnen Dokumenten mache. Dabei hatte ich mir doch ein dauerhaftes Papierverbot verordnet. Wo kommt also das Zeug nur immer wieder her? Beim Hantieren mit diesem vermaledeiten Blattwerk fühle ich mich jedes mal wie jemand, der eigentlich strenge Diät halten muss, aber dann nachts heimlich an den Kühlschrank schleicht, sich die Backen mit kalorienhaltigen Leckerlies vollstopft und dann denkt: „Ach, aber es schmeckt doch einfach so gut.“ Ist das mit dem Papier die Macht der Gewohnheit oder ist meine Generation der frühen 70er so hoffnungslos auf die Verwendung dieses Mediums konditioniert, dass ich immer wieder in die alten Muster zurückfalle?
Auch nach 500 Tagen meines Selbsttests kann ich kaum technische Mängel an meinem Setup feststellen. Natürlich bedarf jede Software – und sei sie noch so intuitiv – einer Einarbeitung. Die Handhabung wird zwar umso anspruchsvoller, je komplexer und mächtiger eine Anwendung wird. Aber das ist alles erlernbar und daher unproblematisch.
Ich empfand andere Faktoren als nachteilig:
- Virtualisierung = Verlust von Ort und Haptik
Das Schöne an Papier ist, dass es so richtig stören kann. So kann ich ein Dokument, was meiner späteren Aufmerksamkeit bedarf, mitten auf meinen Schreibtisch legen. Dort „stört“ es dann so lange, bis ich mich drum gekümmert und es anschließend abgelegt habe. Ist aus dem Papier nach der Digitalisierung erstmal ein Datensatz geworden, ist äußerlich alles wunderbar ordentlich. Doch dieser Schein trügt natürlich und ich bin auf elektronische Erinnerungen angewiesen, jene Meldungen, die auf dem Computerbildschirm oder dem Smartphone aufpoppen und die man so herrlich ignorieren oder wegdrücken kann. Und damit nimmt das Drama „Aus den Augen, aus dem Sinn“ seinen Lauf. Ich habe selten so viele Vorgänge „verschlampt“ wie in der ersten Zeit meines Papierlos-Trips.
- Schwierige Umgewöhnung beim Erstellen von Anmerkungen
In vielen Menschen – auch in mir – steckt noch die Gewohnheit, Anmerkungen in Dokumenten mit einem Stift aufs Papier zu kritzeln. Mich zu disziplinieren, dies nicht mehr zu tun, fällt mir nach wie vor schwer. Es gibt mittlerweile sehr gute Software und Geräte, mit denen man digitale Dokumente direkt am Bildschirm mit Anmerkungen ergänzen kann, aber diese muss man konsequent nutzen. Auf den Moment, wo mir das in Fleisch und Blut übergegangen sein wird, warte ich noch heute.
- Konzeptänderungen und sonstige Anpassungen im laufenden Prozess
Nachhaltige Digitalisierung von Dokumenten setzt voraus, dass ich mir vorher Gedanken über die Ablagelogik bzw. -struktur mache und mir überlege, welche Methode ich zur optimalen Auffindbarkeit der digitalen Dokumente anwenden will. Hier habe ich den letzten Monaten viel im laufenden Prozess umgestellt und optimiert. Es liegt in der Natur der Sache, dass es vorübergehend zu Verwirrungen, Verwerfungen und Inkonsistenzen kommen kann, wenn man in laufenden Prozessen bestimmte Parameter verändert. Als Initiator und Leiter eines solchen Experiments betrachtet man so ein temporäres Chaos zwar als sportliche Herausforderung und entwickelt den Ehrgeiz, aus einmal gemachten Fehlern zu lernen und das System kontinuierlich zu optimieren. Aber vermitteln Sie das mal Ihren Mitarbeitern und Kollegen: „Ach, übrigens Leute, die Handhabung unseres Dokumentenmanagement-Systems, wie wir sie im letzten Monat besprochen hatten, ändert sich gerade nochmal.“ „Na super! Wir haben ja auch alle nichts weiter zu tun, als uns um den Digitsalisierungstrip des Chefs zu kümmern. Schönen Dank!“
- Akzeptanz in meinem Umfeld
Womit wir bei einem ganz wichtigen Thema, der Akzeptanz, gelandet sind. Wie oben schon skizziert, ist man bei der Implementierung eines solchen DMS im Unternehmen nicht allein. Sobald innerhalb eines Teams – und sei es noch so klein – damit gearbeitet werden soll, müssen die entsprechenden Akteure auf dieser Reise auch ordentlich mitgenommen werden. Es kann sehr kontraproduktiv sein, wenn man über die Köpfe der anderen hinweg bestimmte Arbeitsabläufe ändert oder gar radikal neu definiert. In meiner Firma ist mir das bisher ziemlich gut gelungen. Doch ich schoss womöglich etwas über das Ziel hinaus, als ich – von digitalem Enthusiasmus übermannt – mein Experiment auch auf unseren privaten Haushalt ausweitete. Nach dem Motto: „Ich weiß schon, was ich hier tue. Das habe ich im Büro auch schon gemacht. Keine Sorge, das läuft wie am Schnürchen!“, sorgte ich für allerlei Chaos daheim. Innerhalb weniger Wochen schaffte ich es, dass meine Frau zu Hause kein einziges Schriftstück mehr finden konnte. Egal, ob es um ein Schreiben der Hausverwaltung, die letzte Abrechnung der Krankenkasse, einen Brief von der Schule oder um die Einladung zu Omas Geburtstag ging – wonach sie auch suchte, mit ziemlicher Sicherheit fand sie: Nichts! Aber hey, Rom wurde auch nicht am einem Tag erbaut und in ein paar Jahren wird sie mir ganz bestimmt noch dankbar sein für meinen digitalen Weitblick. Spätestens, wenn die heimischen Aktenregale einem riesigen, neuen Kleiderschrank gewichen sein werden, wird sich die Aufregung gelegt haben.
Fazit
Das Projekt sehe ich bei uns in der Agentur immer noch in der Betaphase, welches wir frei von Zeitdruck weiter und tiefer in unsere Arbeitsabläufe implementieren. Auch nach 500 Tagen würde ich nicht behaupten, am Ziel zu sein. Nach wie vor kursieren in unserem Büro Dokumente aus Papier, stehen unzählige Aktenordner in den Regalen und verlassen auch immer mal wieder gedruckte Briefe auf dem klassischen Postweg unser Haus. Man schaltet eine Firma, die über Jahre mit Papier hantiert hat, nicht von heute auf morgen auf rein digital um. Das sagt mir jedenfalls meine persönliche Erfahrung. Ich denke, hier sollte man sich auch keinen unnötigen Stress machen und die Evolution der Revolution vorziehen. Schließlich hat man auch noch ein Tagesgeschäft zu bewirtschaften. Wenn Sie also so etwas planen, geben Sie der neuen Infrastruktur, den Prozessen und Ihrem Team genügend Zeit, um sich aufeinander einzustellen und zusammenzuwachsen.
- Wie schwierig es sein kann, auf die Verwendung von Papier zu verzichten, sollte dabei nicht unterschätzt werden. Der Drang zum Ausdrucken ist stärker als man zunächst denkt.
- Aus technischer Sicht gibt es mittlerweile hinreichend Werkzeuge für die Arbeit mit und an digitalen Dokumenten, aber sie passend für das Unternehmen auszusuchen und konsequent zu nutzen, ist eine Herausforderung.
- Die Erfolge hinsichtlich schneller Auffindbarkeit und Zugriffsmöglichkeiten unabhängig von Raum und Zeit (=Zeitersparnis) bestärken mich darin, dabei zu bleiben, das Projekt weiter voranzutreiben und Arbeitsabläufe weiter zu optimieren.
- Die Kosten für Hard- und Software halten sich auch für kleinere Unternehmen in einem absolut verträglichen Rahmen. Hier sehe ich kein Hindernis.
- Sofern Sie bei Auswahl und Implementierung eines DMS nicht auf entsprechenden Kapazitäten und Kompetenzen in Ihrem Team zurückgreifen können, sollten Sie sich um entsprechende Unterstützung kümmern. Insbesondere Datensicherheit und Datenschutz sollten bei so einem Projekt hinreichend beachtet werden.
Was bleibt von meinen radikalen Gedanken?
Der Titel „radikal digital“, welchen ich für mein Projekt und diesen Artikel gewählt habe, klingt mir im Nachhinein zu brachial und umstürzlerisch. Zu Beginn war ich allerdings noch der Überzeugung, dass man diese Umstellung, wenn man sie denn angeht, auch mit aller Konsequenz durchsetzen muss und jedes Stück Papier eines zuviel ist. Ich muss zugeben, dass mich die Erfahrung der letzten 500 Tage deutlich entspannter gemacht hat. Solange man seine Digitalisierungsstrategie nicht durch übermäßige Verwendung gedruckter Dokumente konterkariert, ist es mit dem Papier wie mit Schokolade: In Maßen schadet es nicht und kann manchmal sogar glücklich machen.
* Ich nenne in meinem Artikel bewusst nicht die von mir verwendeten Hard- und Softwareprodukte beim Namen, da diese aus meiner Sicht für die hier verfasste Zwischenbilanz eine eher untergeordnete Rolle spielen. Es gibt solche Komponenten einzeln oder im Paket mittlerweile wie Sand am Meer. Die einmaligen Anschaffungs- und laufenden Betriebskosten dürften für jedes kleine oder mittelständische Unternehmen problemlos finanzierbar sein. Jeder sollte sich die Komponenten nach seinen eigenen Vorstellungen und Anforderungen aussuchen und zusammenstellen (lassen). Jeder, den mein konkretes Setup dennoch interessiert, kann mir gern eine Nachricht schreiben.
Berliner / Jahrgang '73 / seit über 25 Jahren beruflich in der Internetbranche tätig / berät deutsche Mittelstandskunden, Vereine und Institutionen im Bereich Internet und Digitalisierung / Gründer und Geschäftsführer der Berliner Internetagentur ANTWORT:INTERNET.
Berliner / Jahrgang '73 / seit über 25 Jahren beruflich in der Internetbranche tätig / berät deutsche Mittelstandskunden, Vereine und Institutionen im Bereich Internet und Digitalisierung / Gründer und Geschäftsführer der Berliner Internetagentur ANTWORT:INTERNET.
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